Wenn am Ende aus dem Sand purpurne Orchideen erblüh'nFreitag, 3. August 2018
»Der Orchideenkäfig« – ein malerisch-performatives Science-Fiction-Konzert nach Motiven des Romans von Herbert W. Franke, so überschrieb »SANDFICTION« den Donnerstag Abend in der Johanniskirche
Foto: Markus Koeck »SANDFICTION - Experiment 4K«: welch absolut treffender Begriff für diesen Abend, denn was gab es zu erleben? Eine Fiktion, Science-Fiction aus Sand, das Experiment, die Zukunft, eine mögliche Zukunft der Menschen ins Visier zu nehmen und dabei so flüchtig wie Sand im Wind zu sein, wie das Leben selbst. Kurz vor 21 Uhr wurde die Johanniskirche geöffnet und man betrat – so glaubte man zumindest zunächst – einen ganz normalen, romanischen Kirchenraum. Darin erschien auch alles wie immer: Vorne die Bühne – dieses Mal mit großer Leinwand und dem Titelbild des Abends, das Licht im Chor, die Stühle im Hauptschiff, die Exponate aus Münster und Johanniskirche in den Seitenschiffen, leise Klang-Cluster im Hintergrund. Doch kaum waren die Türen geschlossen, betrat eine zackige Stewardess (Sarah Gros NF) die Bühne und begrüßte das Publikum mit einem wahren Wortschwall über „cerebrale Übermittlung der Datenschutzrichtlinien, gescannt und eingespeist beim Betreten des Raumes, über Körper, die sicher auf der Erde bleiben und dass im Spiel alles zur Verfügung steht, wonach das Herz begehrt. …“ auf der Reise zum Planeten … Kein Mensch kann sich diesen Namen merken! Ziel des Spiels sei es, als Erster das intelligenteste Wesen zu finden und der Preis: Der Planet bekommt den Namen des Siegers. Sprich, man war als Publikum schlagartig in einer Situation wie Corben Dallas aus »Das fünfte Element« als er auf dem Raumkreuzer begrüßt wird, nur eben fiktional – doch das ist ja »Das fünfte Element« auch … Die Stewardess war fertig und „zackte“ von der Bühne ab. Das Titelbild wurde von der Leinwand gewischt und wie aus dem Nichts entstand – aus Sand – aus der Hand Chris Kaisers – eine Landschaft: Erst schemenhaft, wie belebt von den gebrochenen Dreiklängen, dem extrem schweren, schwingungsreichen Ton des Cellos (Peter Nickel). Thymian-Duft liegt in der Luft und sofort ist die Erinnerung an »Le Concert des Parfums« wieder präsent. Eine neue Person, eine Frau in orangen wallendem Kleid (Sarah Gros NF) tritt auf: „Das Wünschen und Fragen erwacht …“ dazu Pizzicato auf dem Cello, Loops, synthetische Klänge – der vierte Protagonist des Abends, Xoforo, fängt an klanglich mit zu mischen. „Etwas erleben wollen …“ Aus der Landschaft erwächst eine Stadt, frisst sich förmlich bis in den Vordergrund in sie hinein, frisst sie, die Bäume, die Berge, den Himmel von hinten nach vorne auf und am Ende steht vorne rechts ein großes Auge auf einem Mast und Orwell lässt grüßen. „Die Berge sind aus Plastik …“, gesprochen ohne jedes Erstaunen und dennoch ein erster deutlicher Hinweis auf die pure Fiktion. … Maschinenklänge, Roboterklänge … „Was sollen die Maschinen schon tun? Was ihnen programmiert ist …aber was ist, wenn sie sich selbst bestimmen?“ »Matrix« schießt einem unweigerlich durch den Kopf … „Können sie ihre Gesetze selbst bestimmen?“ Die Roboter-Gesetze von Isaac Assimov werden zitiert. Uff, also doch alles gut. Wirklich?
Mitten aus dem Bild der Stadt heraus entsteht ein menschliches Profil, leer, einfach wie ein großes Loch mitten in der Welt in Form eines Kopfes, dazu ein Satz sinngemäß: „Hinein in die Fülle des Erlebens und Erreichen des Abenteuers … des gewaltsamen Todes …“ und dazu harte, schmerzhafte, Töne, tiefes – fast grollendes Cello gegen hohe synthetische Klänge und harte, mechanische Schläge. Die weibliche Protagonistin, die im Geiste reisende Person windet sich in konvulsischen Zuckungen auf der Bühne, das Bild, das rot geworden ist, erfährt harte, brutale Schnitte: „Es ist genug!“ „Manchmal weiß ich nicht was echt ist …“ Das Cello wirft Bach-Motetten und Kantaten-Fragmente in den Raum. Genug, um zu erkennen, dass es Bach ist, zu zerlegt, um das Werk wirklich erkennen zu können. Dazu windet sich eine Doppelhelix, das was den Menschen echt und einzigartig macht, durch das Bild, zerteilt den hohlen Kopf, in dem ein Gehirn „wächst“, der eine Wirbelsäule, Augen und Zähne bekommt, der so zum Röntgenbild wird: durchleuchtet bis ins Letzte und zu „guter“ Letzt bekommt er einen Anschluss, vier Kabel an den Hinterkopf und »Matrix« als ein Sinnbild für Manipulation lässt ein zweites Mal grüßen! Die Frau im orangenen Kleid setzt sich auf: „Scheiße, ich brauche einen Kaffee …“ spricht's und sogleich wird ihr einer gebracht, wie es sich eben bei einer virtuellen Luxusreise auf einen fremden Planeten gehört. Wer seinen Bach kennt, konnte nun »Es ist nun nichts Verdammliches …« aus »Jesu meine Freude« auf dem Cello erkennen, auf der Leinwand entsteht ein Raster, das Licht, das immer auch den gesamten Chorraum mit einbezieht, wird kühler, wird kalt, in das Raster wird eine Zahl geschrieben – Zahl gleich Identität – darum lauter Nullen und Einsen, das Grundgerüst jeder Programmierung, der Gegenpol zur Vielfältigkeit der Doppelhelix und ihrer Individualität. Rhythmisierung der Bewegungen, Stimme, hart und rau, anklagend aus dem Off, spricht über die Vernichtung der Stadt, die Toten und Verletzten: „Was füllt Euer Leben aus?“ Der Sprecher aus dem Off bleibt mechanisch, unerbittlich, klagt an, fragt, bohrt nach, will das Warum und Wieso wissen, verändert in keiner Weise seinen Ton. Die Frau in Orange steht als Angeklagte hinter der romanischen Madonna mit Kind – welch Gegensatz: Die Spielerin und der Inbegriff der Mutter – verteidigt sich, erklärt und erfährt letztendlich: Die Logistik-Anlage gibt das Urteil nach den Gesetzen der Verurteilten bekannt. Sie wird zum Tod verurteilt. Doch sie wehrt sich, will das Urteil einer Maschine nicht akzeptieren, argumentiert, dass sie die „Menschen“ dieses Planeten sehen will und die Maschine ist gnädig, führt sie in die Tiefe, die nach und nach in steriler, mechanischer Brutalität auf der Leinwand und in den Klängen entsteht, in die Tiefe, in die die Maschinen die Menschen gebracht haben, um sie zu schützen. Was findet sie dort vor? Keine Menschen, nichtmal in der Form, in der sie uns in »Matrix« gezeigt werden. Die „Menschen“ dieses Planeten sind reine, formlose Eiweiß-Gebilde, denen von den Maschinen pure Glückseligkeit eingeimpft wird … sieht es und mutiert vor den Augen der Zuschauer zu eben so einem Klumpen … Ist das Todesurteil vollstreckt? Man weiß es als Zuschauer nicht … doch es war ja auch alles nur Fiktion … oder? Ob diese Zukunftsvisionen Realität werden können? Nun, wir wissen es nicht und werden es hoffentlich nie erfahren, denn auch wenn sie in dieser oder ähnlicher Form nicht nur in Frankes Roman »Der Orchideenkäfig« vorkommen, so ist die Vision einer Menschheit, die nur noch auf ihr Vergnügen um jeden Preis aus ist, genau so deprimierend wie die Vision, dass eine hochentwickelte Zivilisation als pure Eiweißklumpen endet, denen von Maschinen eine ideale Existenz vorgegaukelt wird. Das als Fazit zur dargestellten Geschichte an sich. Das Fazit zu »SANDFICTION - Experiment 4K«: Ein phänomenaler Wurf multimedialen Kunstgeschehens in jeder Hinsicht! (hat) Trackbacks
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