Ein Bach, den es so (noch) nicht gabSonntag, 6. August 2023
Dass Johann Sebastian Bach deutlich mehr komponiert hat als die Werke, die wir heute noch von ihm kennen, ist unumstritten. Doch von vielen seiner Kompositionen zeugen nur noch Berichte. Genauso ist von ihm mehr als bekannt, dass er ein geschickter Wiederverwerter seiner eigenen Werke war. So finden sich viele seiner Musiken zum Beispiel erst in weltlichen Kantaten, die er später, in seiner leipziger Zeit in einen sakralen Kontext setzte, hatte er doch über mehrere Jahre die Aufgabe, für nahezu jeden Sonntag eine neue Kantate für die Thomaskirche zu liefern. Was hat das aber mit dem »Passionsoratorium 1725« zu tun, das am Samstag Abend in der Augustinuskirche als Abschlusskonzert des diesjährigen Kirchenmusik-Festivals erklang? Einfach alles, denn von diesem gibt es nur noch den von Picander verfassten Text, sowie diverse textliche und musikalische Bezüge unter anderem zu heute noch bekannten Werken Bachs, in der Hauptsache zur »Matthäuspassion«.
Aus Sicht des Konzertbesuchers vom Samstag Abend ist es müßig, ob und warum Bach dieses Werk begonnen hat oder nicht. Was zählt ist das, was es am Samstag zu hören gab, wie das belgische Ensemble »Il Gardellino« unter der Leitung von Alexander Grychtolik diesen neuen alten Bach zum Erklingen brachte und ob die Rekonstruktion des Werkes durch Grychtolik das Publikum überzeugen konnte. Vor der Betrachtung des Konzertes an sich ein kurzer Blick auf das Vorgehen Grychtoliks bei der Rekonstruktion: Für die Choraltexte konnte er auf den reichen Bach-Fundus zurückgreifen. Schwieriger war es bei den Arien. Hier ging es darum, Arien zu finden, die dem Text-Rhythmus entsprechen und sie dem Text entsprechend neu zu instrumentieren. Die Rezitative hat er – ganz im Stile Bachs – neu komponiert. Und bevor die Frage aufkommt, sei sie beantwortet: Ja, die Rekonstruktion dieses vermutlich verworfenen Bach-Projekts hat sich gelohnt. … Am Samstag Abend erklang ein Oratorium, das unumwunden mit Bach in Verbindung gebracht werden kann und das gerade durch die Rekonstruktion und Ergänzung Grychtoliks ein neues Glanzlicht auf das Werk des Thomaskantors wirft.
Nun zum Konzert: Am Eingang des Werkes steht der Choral »Oh Mensch, bewein dein Sünde groß«. Chor und Orchester entwickelten den Choral eher zurückhaltend und formten ein weiches Klangbild. Präsente Einsätze ermöglichten dem Ensemble deutliche, doch ganz im Melodie-Fluss liegende Akzente. Die Streicher setzten feine Ton-Tupfen, klangmalerisch wie die Tränen des Textes, gegen den Fluss der Choralmelodie. In der ersten Arie (Zion, Miriam Feuersinger, Sopran) fiel schnell die Kraft der Continuo-Gruppe auf. Sie lieferte eine manifeste Harmonie- und Tempo-Basis, über der sich die zwei Pole der Arie, Sopranstimme auf der einen und die zwei mit ihr konzertierende Barock-Oboen frei entwickeln konnten. Prägend war hier der Gegensatz zwischen den bewegten Partien der Oboen und den von Miriam Feuersinger sprechend gestalteten langen Tönen. Eine tragende und die Handlung voranbringende Rolle hat der Evangelist in den Oratorien. Er ist als Erzähler meist mit einem Tenor besetzt. Daniel Johannsen erwies sich gleich in seiner ersten Nummer als herausragende Besetzung. Mit seiner hellen, fast schon metallischen Stimme gelang es ihm durchweg gut, die Handlung klar zu transportieren. Als Evangelist gilt es, hochemotional zu sein und doch gleich wieder die ganz leisen Töne anschlagen zu können, dabei den Text nicht in den Hintergrund treten, sondern ihn weit in die Welt zu tragen, was Johannsen den ganzen Konzertabend hindurch ohne jede Frage gelang. Interessant war auch, wie er als Johannes eine Arie nahm: Auch hierfür eine absolut überzeugende Besetzung! Neben dem Evangelisten fiel einer zweiten Figur, der Seele (William Shelton, Altus) die Rolle zu, die Handlung zu tragen, doch im Gegensatz zum Evangelisten mit frei gedichteten Texten. Die Rezitative der Seele sind kompositorisch noch größer angelegt als die des Evangelisten, so dass Shelton in ihnen deutlich weiter ausgriff, als man es sonst von dieser Gattung gewohnt ist. Wie weit er seinen Gestaltungsspielraum ausreizte, zeigte sich in der »Rolle doch nicht …« Arie, die allein schon durch ihren Text und die sie eins zu eins aufgreifende melodische Bewegung zu einem Kleinod geriet. Dazu die hochemotionale Ausgestaltung und die klar definierte Dynamik: Ein Hörgenuss! Petrus, gesungen von Jonathan Sells (Bass) hätte man sich nach diesen zwei eindeutig überzeugenden Stimmen und dann vor allem auch im Vergleich mit dem zweiten Bass Tiemo Wang (Jesus) etwas kraftvoller gewünscht. Vielleicht sollte das Orchester bei der seit Sonntag in der Augustinuskirche entstehenden CD-Einspielung des Werks etwas zurückgenommen werden, denn die Stimme passt, allein sie trug nicht wirklich genug. Ob man sich nach dem Konzert die wohl demnächst zu habende CD kaufen sollte? Ja, in jedem Fall, denn was am Samstag Abend erklang, war nicht nur ein glanzvoller Abschluss des Festivals 2023, es war ein Werk, das man gerne wieder hören möchte und das in genau dieser Besetzung. (hat) Trackbacks
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